Interview Künstliche Intelligenz

Europas KI-Zukunft: Regulierung als Innovationschance

Während die USA auf einen zunehmend unregulierten Markt setzen und China mit staatlicher Steuerung seine KI-Industrie vorantreibt, steht Europa mit dem AI Act vor einer entscheidenden Frage: Wird Regulierung zum Hemmschuh oder zur Triebfeder für Innovationen im Bereich der Künstlichen Intelligenz?

Darüber diskutierten jüngst Michael Koch (Lufthansa Industry Solutions), Prof. Dr. Maximilian Kiener (Institut für Ethik in der Technik, TU Hamburg) und Alois Krtil (ARIC e.V.), deren Organisationen sich mit weiteren Partnern zur „Responsible AI Alliance“ zusammengeschlossen haben. Ihr Fazit: Unternehmen dürfen sich nicht von gesetzlichen Vorgaben lähmen lassen – sie müssen jetzt aktiv werden, um mit ethisch verantwortungsvoller KI wirtschaftlich erfolgreich zu sein.

Prof. Dr. Maximilian Kiener (Institut für Ethik in der Technik, TU Hamburg)

Zwischen Stargate und DeepSeek – wie kann sich Europa im globalen KI-Wettrennen behaupten? 

Maximilian Kiener: Das chinesische KI-Modell DeepSeek erreicht mit weniger Kosten eine vergleichbare Qualität wie die großen Player aus den USA. Auch wenn Details erst noch geklärt werden müssen, legt diese Entwicklung jedoch nahe, dass man auch mit geringeren Mitteln konkurrenzfähig bleiben kein. Global zeichnen sich drei unterschiedliche Ansätze ab: Die USA setzen auf einen deregulierten Markt, China auf staatliche Steuerung und Europa auf rechtliche Rahmenbedingungen mit dem AI Act. In den USA zeigen sich bereits Probleme wie der Rückgang von Faktenchecks, während große Konzerne zunehmend gesellschaftliche und staatliche Aufgaben übernehmen.

Michael Koch: Inzwischen warnen auch in den USA Industrie und Behörden vor steigenden Kriminalitätsraten durch unregulierte KI-Technologien. Es wird deutlich: Ein vollkommen freier Markt ist keine Option. Nicht nur politische Akteure, sondern auch Wirtschaftsvertreter fordern Regulierung.

Alois Krtil: Bemerkenswert an DeepSeek ist die Veröffentlichung als Open-Source-Anwendung – untypisch für den üblichen „Closed-Shop“-Ansatz Chinas. Das zeigt: Open-Source-Entwicklung bleibt ein Innovationstreiber. Europa wird in diesem Bereich oft unterschätzt. Allein die Open-Source-KI-Szene in Paris demonstriert unsere Stärke. Wir gehören zu den weltweit führenden Regionen für generative KI und Open Source – auch wenn uns die finanziellen Mittel der großen Player fehlen. Allianzen können hier eine Schlüsselrolle spielen – voneinander lernen statt isoliertes Arbeiten an KI-Regulierung und Innovation.

Michael Koch: Deutschland verfügt über einige der besten KI-Experten weltweit – eine enorme Chance. Oft wird bei uns das Narrativ verbreitet, wir müssten massiv in Hardware investieren, um konkurrenzfähig zu sein. DeepSeek widerlegt diese These. In China haben Handelsrestriktionen wie insbesondere US-Zölle auf Nvidia-Hardware zu innovativen Lösungsansätzen geführt – möglicherweise der Schlüssel zum Erfolg von DeepSeek. Auch Europas regulatorische Hürden könnten sich als Katalysator für kreative Lösungen erweisen.

Michael Koch (Lufthansa Industry Solutions)

Ist der Vorwurf, dass der EU AI Act Innovationen ausbremse, gerechtfertigt?

Maximilian Kiener: Der AI Act muss kein Innovationshemmnis sein, sondern bietet Chancen für Wettbewerbsvorteile. Er fordert genau das, was Responsible AI ausmacht: Sicherheit, Verantwortung und Governance. Europas Stärke liegt in der ganzheitlichen Bewertung von KI – technologisch, ethisch und regulatorisch. Unternehmen müssen ohnehin verantwortungsvoll mit KI umgehen, statt blind APIs einzubinden.

Alois Krtil: Ein konkretes Beispiel dafür: Erst heute war ich in einem Workshop mit einem Mittelständler für KI-Abbiegeassistenten – ein sicherheitskritischer Bereich, der höchste Anforderungen an Security, Safety und Robustheit stellt. Dieser Mittelständler sieht regulatorische Anforderungen als Qualitätsmerkmal – ein Gütesiegel für Vertrauenswürdigkeit. Das Logo der Responsible AI Alliance wird mit Stolz getragen, da es ihre Position als verlässlicher Anbieter stärkt. Die Mitgliedschaft ist ein Marktvorteil, der garantiert, dass ihre Modelle frei von fragwürdigen Datenquellen sind. Ihre KI-Lösungen erfüllen europäische Standards und beweisen ihre Sicherheit und Zuverlässigkeit.

Maximilian Kiener: Die RAI Alliance kann hier viel bewirken, steht aber vor komplexen Herausforderungen. Responsible AI wird oft als übergeordnetes Prinzip verstanden, dabei umfasst erfolgreiche Regulierung vielfältige Werte und Anforderungen. Sicherheit darf nicht zum alleinigen Maßstab werden – das würde den Diskurs einengen. Die Stärke der RAI Alliance liegt gerade darin, diese Vielfalt der Werte zu bewahren und zu fördern.

Alois Krtil (ARIC e.V.)

Braucht es mehr Pragmatismus und Experimentierfreude in Sachen KI?

Michael Koch: Insgesamt herrscht in Europa eine größere KI-Skepsis als in den USA. Im Unternehmensalltag zeigt sich: Bei drei Viertel der KI-Anwendungen gibt es Widerstände in der Belegschaft. Die RAI Alliance kann hier Vertrauen schaffen. Viele Unternehmen zögern noch beim breiten KI-Einsatz aus Unsicherheit über verantwortungsvolle Implementierung. Der Schlüssel liegt im pragmatischen Ansatz: Nicht jedes Unternehmen braucht sofort eine KI-Abteilung, aber alle benötigen eine KI-Strategie. Schulungen und interner Kompetenzaufbau sind die ersten wichtigen Schritte.

Alois Krtil: Die rasante technologische Entwicklung verstärkt diese Dynamik. War generative KI vor wenigen Jahren noch ein Experimentierfeld, ist sie heute Alltag. Unternehmen sollten sich von regulatorischen Unsicherheiten nicht lähmen lassen, sondern in kontrollierten Umgebungen KI-Integration testen. Die RAI Alliance kann dabei helfen, Best Practices zu etablieren und den Dialog aktiv mitzugestalten.

Maximilian Kiener: Die Entwicklung von KI ist nicht nur Sprint, sondern auch ein Marathon – es geht um nachhaltige Systeme statt kurzfristige Effizienzgewinne. Innovation und Ethik sind dabei untrennbar verbunden: Ethik steckt bereits in der Wertschöpfung, die über rein ökonomische Ziele hinausgeht. Das Bild eines Zirkuszelts verdeutlicht die Herausforderung: Schnell aufgebaut, zieht es Besucher an, hinterlässt aber nur plattgetretenes Gras. Alternativ könnte man ein nachhaltiges Gebäude errichten – das dauert länger, aber es bleibt bestehen. Europa braucht beide Aspekte: agile Experimente für kurzfristige Innovation und gleichzeitig den Aufbau langfristig tragfähiger Strukturen.

Der nächste große Schritt beim Thema Künstliche Intelligenz ist Agentic AI. Mit welchen Risiken und Chancen?

Michael Koch: Die Möglichkeiten von Agentic AI sind in der Tat beindruckend. KI-Agenten können nicht nur Informationen bereitstellen, sondern auch autonom Entscheidungen treffen und Handlungen ausführen. Der ökonomische Druck treibt Unternehmen zu solchen vollautonomen Lösungen. Die Kernfragen lauten: Wie schaffen wir Vertrauen in diese Systeme? Welche Kontrollmechanismen sind nötig?

Maximilian Kiener: Ein zentrales Problem ist, dass wir noch keine geeignete rechtliche Kategorie für KI-Agenten haben. Das führt zu Unsicherheiten: Wer haftet, wenn ein KI-Agent einen Schaden verursacht? Welche Verantwortung trägt das Unternehmen, das ihn einsetzt? Auch unsere Sprache trägt zu Missverständnissen bei und suggeriert, dass hinter KI eine Art Bewusstsein steckt, was nicht der Fall ist. Letztlich handelt es sich ganz klar nicht um „denkende“ oder „fühlende“ Systeme.

Michael Koch: Trotz der Herausforderungen ist das Potenzial für Effizienzsteigerungen in Unternehmen enorm. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind schon heute in der Lage, eigene Prozesse zu optimieren – KI kann dabei alltägliche Aufgaben übernehmen. Aber: Dafür braucht es die richtige Balance zwischen Innovation und Sicherheit. Unternehmen müssen KI-Experimente wagen und gleichzeitig Verantwortung übernehmen. Das AI-Gesetz bietet dafür Orientierung, die Umsetzung in praktikable Strategien liegt aber bei den Unternehmen selbst.

Alois Krtil: Hier liegt unsere Chance: Die frühzeitige Integration von Responsible AI in die Unternehmensstrategie schafft Vertrauen und Marktvorteile. Unternehmen, die auf sichere und transparente KI setzen, sind schon heute besser aufgestellt. Europa kann eine Vorreiterrolle einnehmen und zeigen, dass sich Innovation und Ethik ergänzen.

Zum Abschluss: Was kann man Unternehmen im Umgang mit KI und deren Regulierung raten?

Maximilian Kiener: Zusammenfassend sind drei Aspekte entscheidend: Erstens, proaktive KI-Strategieentwicklung statt Warten auf den AI Act. Zweitens, Ethik als Innovationstreiber statt reiner Compliance-Aufgabe. Drittens, Fokus auf Zusammenarbeit – sei es in Allianzen oder im offenen Unternehmensaustausch.

Michael Koch: Ergänzend: Unternehmen müssen vor allem eins – anfangen und dabei müssen Unternehmen nicht alles selbst entwickeln. Netzwerke und Kooperationen ermöglichen Erfahrungsaustausch und Best-Practice. Intern braucht es eine Experimentierkultur für sicheres KI-Testing.

Alois Krtil: Letztlich geht es um verantwortungsvolle und mutige KI-Nutzung. Proaktive Unternehmen werden nicht nur Regulierungen erfüllen, sondern als Innovationstreiber wahrgenommen. Europa hat die Chance, seine Stärken auszuspielen – wenn wir es klug angehen.

Interviewpartner
  • Michael Koch ist Director Artificial Intelligence bei Lufthansa Industry Solutions (LHIND) und sitzt im Vorstand des ARIC e.V..
  • Prof. Dr. Maximilian Kiener ist Philosoph und Hochschullehrer mit Expertise in Ethik, Rechtsphilosophie und Digitalisierungsfragen. An der TU Hamburg leitet er das Institute for Ethics in Technology.
  • Alois Krtil ist studierter Wirtschaftsinformatiker und Diplom-Ingenieur. Er ist Geschäftsführer des 2019 von ihm gegründeten Artificial Intelligence Centers (ARIC e.V.) in Hamburg.
Über Lufthansa Industry Solutions

Lufthansa Industry Solutions ist ein Dienstleistungsunternehmen für IT-Beratung und Systemintegration. Die Lufthansa-Tochter unterstützt ihre Kunden bei der digitalen Transformation ihrer Unternehmen. Die Kundenbasis umfasst sowohl Gesellschaften innerhalb des Lufthansa Konzerns als auch mehr als 300 Unternehmen in unterschiedlichen Branchen. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Norderstedt beschäftigt über 2.600 Mitarbeitende an mehreren Niederlassungen in Deutschland, Albanien, der Schweiz und den USA.